Wie funktioniert das eigentlich, wenn wir mit dem Swiss Orchestra Werke aufführen, die seit langer Zeit in Archiven schlummern? So wie beispielsweise Franz Xaver Schnyder von Wartensees 1. Sinfonie, die anlässlich unserer Tour #7 «Spurensuche Schweizer Sinfonik» aller Voraussicht nach erstmals seit dessen Lebzeiten wieder aufgeführt wird?

Bei Archiv-Recherchen stiess Lena-Lisa Wüstendörfer, Music Director des Swiss Orchestra, auf dieses Werk des Luzerner Beethoven-Zeitgenossen. Sie war davon fasziniert und wollte es mit dem Swiss Orchestra wieder zum Klingen bringen. Dafür konnte das Orchester den Schweizer Musikwissenschaftler Michael Matter gewinnen, der sich mit grosser Akribie und viel Fleiss an die Editionsarbeit machte.

Die Noten lagen in diesem Fall lediglich als originales Tintenmanuskript in einer 280 Seiten starken Partitur vor, die sämtliche Orchesterstimmen als Übersicht für den oder die Dirigent*in, in unserem Fall für Lena-Lisa Wüstendörfer, darstellt. Im Bild sehen Sie die Stimmen der beiden Flöten, Oboen und Klarinetten (die letzten 6 Takte des ersten Satzes):

 

Auch wenn es sich in diesem Fall um eine aussergewöhnlich ordentliche Handschrift handelt, können diese Noten nicht für die Aufführung verwendet werden: Einerseits sind die Originale zu wertvoll, andererseits sind die Noten zu unübersichtlich, um daraus spielen zu können. Daher mussten wir das Werk neu edieren – heisst, in moderne Notenschrift übertragen (hier die letzten 7 Takte des ersten Satzes):

 

 

Aus der Partitur wird anschliessend für jedes Instrument das jeweilige Stimm-Material erstellt, damit beispielsweise der Klarinettist nur seine eigene Stimme sieht und nicht die ganze Zeit mit blättern beschäftigt ist. Denn schliesslich genügt es, wenn die Dirigentin den Überblick über sämtliche Stimmen des Orchesters behält.

Nun geht es für die Musiker*innen ans Üben zu Hause, bevor sich das Orchester zum Proben trifft und Unstimmigkeiten geklärt, und – wo nötig – letzte Fehler in den Noten korrigiert werden können.

Zur Edition (Text: Michael Matter)

Zu der ersten Sinfonie von Schnyder von Wartensee sind insgesamt drei handschriftliche Quellen überliefert, die in der Musikabteilung der Zentralbibliothek Zürich archiviert sind. Zum einen befindet sich dort die autographe Partitur des Komponisten, mit Tinte auf gebundenem Papier geschrieben und mit dem blossen Titel «Simphonia» versehen, ohne Datierung oder Nummerierung des Werks. Zum anderen liegen eine zweite Partitur sowie Stimmenmaterial in einer Abschrift von fremder Hand vor. Diese beiden Quellen sind ebenfalls undatiert, die Partitur trägt jedoch eine Widmung: «Grande sinfonie: à grand orchestre / dediée a la société philarmonique de Londres comme temoignage de son plus profont respect par Xavier Schnyder de Wartensée Francfort». Nach der Uraufführung in Frankfurt wurde das Werk also offensichtlich auch in London von der Philharmonic Society gespielt, deren Stempel auf der Partiturabschrift firmiert.

Massgebliche Quelle für die nun neu angefertigte Edition war Schnyder von Wartensees Autograph. Die beiden anderen Quellen gehen in ihrer Entstehung natürlich auf diese zurück und dienten dementsprechend als Referenzquellen. In einem ersten Schritt wurde das Autograph mithilfe einer Notensatzsoftware übertragen und in ein modernes Schriftbild gesetzt. So wurde beispielsweise die zur Zeit der Wiener Klassik gängige Partituranordnung nach Registern (Sopranregister, mittleres Register, Bassregister) zugunsten einer zeitgemässen Anordnung aufgebeben (Holzbläser, Blechbläser, Pauke, Streicher). Auch die Notation transponierender Instrumente erhielt eine Anpassung an heutige Gepflogenheiten.

In einem zweiten Schritt ging es vor allem um eine für die Spielbarkeit der Sinfonie sinnvolle Vereinheitlichung von Dynamik und Artikulation (Legatobögen, Staccatopunkte etc.), denn das Autograph weist in dieser Hinsicht zahlreiche Inkonsistenzen auf. So sind dynamische Angaben sehr pauschal gesetzt und in der Regel nicht für jedes Instrument einzeln angegeben. Die Artikulationen wiederum sind über die ganze Partitur hinweg sehr inkonsequent notiert, oftmals besteht weder unter zusammenspielenden Instrumenten noch innerhalb eines melodischen Verlaufs eine einheitliche Schreibweise. Womöglich verliess sich Schnyder von Wartensee auf seine Kopisten, die solche «Lücken» schliessen würden. Doch das Stimmenmaterial ist in dieser Hinsicht genauso mangelhaft. Davon ausgehend, dass ähnliche Motive oder Melodielinien auch auf dieselbe Art und Weise zu spielen sind, erforderte die artikulatorische Vereinheitlichung zugleich eine Analyse der Sinfonie. Dass Schnyder von Wartensees Sinfonie sehr planvoll komponiert ist (klarer Satzbau, logische Form, zyklische und kontrapunktische Wiederverwendung von motivisch-thematischem Material), erleichterte diesen aufwändigen Arbeitsschritt sehr.

Aus der so spielbereit hergestellten Partitur konnten anschliessend die neuen Stimmen für die Wiederaufführung der Sinfonie herausgezogen und eingerichtet werden.

Michael Matter

Michael Matter studierte Musikwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Bern und Rom (La Sapienza). Von 2008–2012 erfolgte die Promotion an der Universität Zürich mit einer Arbeit über den dänischen Komponisten Niels W. Gade und das Phänomen des ‚nordischen Tons‘. Daneben arbeitete Michael Matter ausserdem als Musikkritiker bei «Der Bund» sowie als Konzertdramaturg beim Berner Symphonieorchester.

Seit März 2013 ist Michael Matter wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Anton Webern Gesamtausgabe an der Universität Basel. Ausserdem ist er Mitherausgeber der «Editionen der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft».

Franz Xaver Schnyder von Wartensee

Schnyder von Wartensees erste von insgesamt vier Sinfonien entstand über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren und wurde 1822 in Frankfurt am Main uraufgeführt, wo der 1786 geborene Luzerner grosse Teile seines Lebens verbrachte. Ursprünglich hatte Schnyder von Wartensee in seiner Heimatstadt eine Beamtenlaufbahn begonnen. Diese brach er jedoch schon bald ab und widmete sich fortan der Musik. 1808 war er massgeblich an der Gründung der Schweizerischen Musikgesellschaft beteiligt.

Die Entstehungszeit seiner ersten Sinfonie ist gezeichnet von gesellschaftlichen und politischen Unruhen, die für ihn persönlich wie beruflich schwerwiegende Folgen hatten: Schnyder von Wartensee verlor beim Stadtbrand in Wien 1812 – er reiste mit dem Ziel dorthin, Unterricht bei Beethoven zu erhalten – sämtlichen Besitz inklusive Instrumente und Kompositionsmanuskripte und kehrte gezwungenermassen zurück nach Luzern. 1815 wirkte er im Rahmen der Koalitionskriege beim Feldzug gegen die Franzosen mit, der mit einer Niederlage Napoleons endete und den Zweiten Pariser Frieden einläutete.

Schnyder von Wartensee entwickelte sich zu einer der grossen Schweizer Komponisten-Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Er stand im Austausch mit unzähligen bedeutenden Figuren der europäischen Kunstmusik der Zeit. Nicht zuletzt mit Robert Schumann – davon zeugt unter anderem ein kurioser Brief, in dem sich Schnyder von Wartensee bei diesem über eine Rezension eines Herrn «Halbanonymus» in der Neuen Zeitschrift für Musik zu seinem Oratorium «Zeit und Ewigkeit» enerviert, das im Juli 1838 beim ersten Deutschen Sängerfest in Frankfurt uraufgeführt wurde.